Kleine Baumgruppe

Ich bekam das Gefühl, dass er kein Wort von dem verstand, was ich sagte. Leider wusste ich auch nicht, wie ich es hätte besser erklären sollen. Als er dann sein Taschenmesser betrachtete, machte ich mir ein wenig Sorgen. "Ist etwas? Du wirkst so nachdenklich." Hatte ich etwas falsch gemacht? Etwas stutzig und ein wenig unsicher blickte ich ihm in die Augen. Erst jetzt wurde mir bewusst, was für klare Augen er hatte. Ich konzentrierte mich wohl immer auf die seltsamsten Dinge...

"Ich bin immer nachdenklich. Mach dir nichts raus. Ich hab's eben nicht so mit reden." Wie denn auch? Früher hatte niemand mit ihm geredet. Es sei denn man zählte Spott und Beleidigungen dazu. Doch auch hatte er nie etwas zu gesagt, sonst hätte es Schläge gegeben. "Ich bin eher der körperliche Typ, wenn du verstehst." ergänzte Dustin und musste innerlich wegen der Zweideutigkeit ein wenig auflachen. "A-Also, nicht, dass du denkst..." fügte er hinzu, lies das ganze aber dann doch in der Luft hängen. Konnte ihm doch egal sein, was Noah dachte.

"Nein, keine Sorge. Mir macht es auch nichts, wenn du nicht so viel redest." Ein Grinsen konnte ich mir zuvor aber nicht verkneifen. Seine Reaktion war irgendwie recht süß. Ich musterte ihn kurz. "Es tut mir eher leid, dass du mein ständiges Gerede abbekommst." Etwas unsicher biss ich mir wieder auf die Unterlippe, doch diesmal so unbewusst stark, dass meine Lippe begann zu bluten.

"Solange du sinnvolles redest, kann ich's ertragen." Dustin fiel es zunehmend schwerer, unfreundlich zu Noah zu sein. Woran lag das? Das war ja zum Kotzen. Er musste nachher unbedingt jemanden töten, um das wieder auszugleichen. Er war ein Geschöpf der Nacht und er fand es gut. Wenn er sich zu viel mit Leuten wie Noah abgab, würde er noch verweichlichen. "Kennst du Nekos?" fragte Dustin schließlich nach kurzem nachdenken. "Ich hätte gern einen." Oh ja. Es wäre sein Sklave. Sowohl im Bett als auch im Alltag. Und er hätte jemanden,an dem er seinen Frust ablassen konnte. Er musste sich dringend einen Neko zulegen.

Ich schwieg nur nach seiner Aussage. Sinnvolles. Woher wusste ich denn, was in seinen Augen sinnvoll war? Als er mich etwas fragte, antwortete ich unbewusst knapp: "Ja, kenne ich." Dann wischte ich vorsichtig über meine Lippe, welche höllisch brannte. Dass es schmerzte, könnte ich nicht verstecken, aber ich war selbst Schuld. Es hörte kaum auf und ich schmeckte das Blut auf meinen Lippen.

Dustin hatte gerade auf den Boden geschaut, als sein Kopf in der Nächsten Sekunde auf Noah gerichtet war. Blut. Er hatte richtig gerochen. Der Geruchssinn eines Vampires trügte ihn nicht, wenn es um Blut ging. Dustin schnellte vor und hatte im Bruchteil einer Sekunde plötzlich Noahs Unterlippe im Mund, was wohl mehr oder weniger einen Kuss darstellte. Genüsslich saugte er und ließ seine Zunge über Noahs Lippe gleiten. Blut. Erfüllung.

Überrascht von Dustins Verhalten gab ich mich diesem Kuss hin, erwiderte ihn förmlich. Ich hatte mit allem gerechnet, doch keineswegs damit. Wiederum musste ich auch zugeben, dass es mir sehr gefiel, wenn ich ehrlich sein sollte. Dustin überraschte mich immer wieder. Er war undurchschaubar, aber das hatte gewiss seine Reize...

Dustin lies von Noah ab, blickte ihm in die Augen und wischte sich den Mund ab. Erst jetzt wurde ihm bewusst, was er da gerade eigentlich getan hatte. Das war gewiss nicht seine Absicht gewesen. Aber es war eben Blut. Sein Lebensexlier und sein einzige Sucht. Und dazu noch einmal, die er niemals loswerden würde. "Tut mir leid." meinte Dustin tonlos. "Die Pferde sind mit mir durchgegangen." ergänzte er und setzte sich wieder an seinen vorherigen Sitzplatz.

"Kein Problem, ich verstehe." Es war nun mehr als logisch. Er war ein Vampir. Ich verlor darüber jedoch kein Wort. Ich lehnte mich daraufhin stillschweigend zurück. So konnte es gehen. Ich zauberte mir etwas zu trinken her und nahm einen Schluck zu mir. Ich war etwas ratlos gerade und starrte leicht dem Boden entgegen.

"Hey, du musst dich nicht schämen." meinte Dustin locker, als er bemerkte, dass Noah zu Boden sah. "Tut mir leid, falls du nicht auf Kerle stehst." Tat es nicht. Aber das sagte man so, so waren die Regeln der Gesellschaft. Auch wenn Dustin sein ganzes Leben lang ziemlich isoliert gelebt hatte, wusste er, wie man sich in gewissen Situationen verhalten musste. Und auf Höflichkeit legten die Menschen wert. Warum auch immer. Es war ohnehin alles nur geheuchelt.

"Das... Das ist es nicht", entgegnete ich noch etwas durcheinander. "Ich stehe sehr wohl unter Anderem auf Männer." Ich ließ einen weiteren Schluck folgen. Das war eine unangenehme Situation. Ich befürchtete eine nächste Frage, welche mir ganz schwer im Magen liegen würde. Das Dumme an der Sache war, wie würde ich sie beantworten? Das ganze Nachdenken machte mich nur noch nervöser. Ohnehin fragte ich mich schon, was Dustin eigentlich von mir dachte, obwohl ich sonst nicht auf Derartiges achtete. Ich war vollkommen unentspannt und das war jetzt äußerst unpraktisch...

"Was ist es dann?" wollte Dustin wissen und musterte den Menschen skeptisch. Hatte er sich von dem Kuss mehr erhofft? Abwegig wäre das nicht. Wer küsste schon jemanden aus heiterem Himmel, nur um Blut von dessen Lippe zu lecken? Noah wusste immerhin nicht, was Dustin wirklich war. Und Dustin hatte auch nicht vor, es ihm zu erzählen. Er würde es schon noch früh genug herausfinden. Genau wie der Rest der Akademie.

"Ist... nicht so wichtig. Ist schon gut", antwortete ich nur und versuchte, mich zu entspannen, und ließ mit meinem Blick vom Boden ab. Schnell trank ich das Getränk aus und ließ es verschwinden. Ich setzte mich wieder richtig hin und blieb ein kurzen Moment gedankenverloren. Ich versuchte der Frage einfach auszuweichen. Alles Andere hätte jetzt wirklich in die Hose gehen können und das wollte ich keinesfalls.

Dustin seufzte laut. Jetzt hatte er auch noch ein schlechtes Gewissen. Dabei waren Gewissensbisse ihm völlig fremd. Als Kreatur der Dunkelheit stand er weit über solchen Dinge. "Zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen." meinte Dustin und wiederstand dem Drang, Noah auch körperlich zu trösten. "Dich wird eines Tages schon noch der oder die Richtige Küssen. Aber das bin ich sicher nicht." sagte der Kanadier und beschloss, dass das gut klang.

Ich ging nich auf das, was Dustin sagte, ein. Ich wollte das lieber nicht vertiefen. Es war so schon peinlich genug geworden. "Wie sieht es denn mit den Schnitzereien aus?", fragte ich nur, um nicht weiter in dieser Situation gefangen zu sein. Retten, wenn noch überhaupt etwas zu retten war, das war wohl das Ziel, dachte ich.

Dustin fühlte sich ein wenig vor den Kopf gestoßen. Da bemühte er sich einmal in 50 Jahren schon um aufmunternde Worte und dann ging sein Gegenüber nicht mal darauf ein. Es lohnte sich eben doch nicht, Zeit damit zu. verschwenden, andere Menschen zu trösten. Sie waren undankbar und helfen tat es ohnehin wenig. "Naja der letzte Pfeil ist etwas krumm geworden. Da werde ich am Ende nochmal sehen müssen, wie ich das wieder hinkriege. Notfalls werfe ich ihn weg. Wenn er einen Bogen im Flug macht, nützt er mir wenig." erklärte Dustin und war ein wenig stolz darauf, dass er sich damit einigermaßen auskannte.

Mich überkam ein schlechtes Gewissen, dass ich die sehr lieben Worte einfach in den Wind schoss, aber ich wollte einfach nicht noch verweichlichter wirken als so schon. So würde man mich als Mann nicht erstnehmen und vor ihm als verweichlichtes Etwas darzustehen, das wollte ich garantiert nicht. Vielleicht könnte ihm irgendwie anders zeigen, dass die Worte für mich kein leeres Geschwätz waren.
"Klingt, als wäre etwas Derartiges nicht änderbar und festgelegt. Lässt sich da denn nichts wirklich machen?" Diese Aussage hätte man sogar metaphorisch bzw philosophisch weiterverwenden können. Können Dinge sich nicht ändern? Werden sie einfach festgelegt? Sind wir auf ewig festgelegt in Rollen, die wir vielleicht nie spielen wollten? Meine Gedankengänge waren mal wieder atemberaubend.
"Magst du mir mal zeigen, worauf es denn wirklich ankommt?", fragte ich dann ergänzend mit großem Interesse.

"Naja schau." meinte Dustin und rückte schließlich rüber, sodass er nun neben Noah saß. "Wenn du dir diesen Pfeil anschaust, dann siehst du, dass er geneigt ist. Das bedeutet, dass er niemals gerade fliegen können wird. Es ist also egal, wie gut du zielst. Dieser Pfeil wird sein Ziel niemals treffen. Und das ist nicht Sinn der Sache. Man muss sich schon beim Schnitzen Gedanken darüber machen, wie sich das Geschoss in der Luft verhalten wird. Dann hat man die halbe Arbeit schon hinter sich, wenn man das berücksichtigt." erklärte er.

Gespannt folgte ich seiner Erklärung und seiner Präsentation. "Also für einen direkten Schuss, der das Ziel verletzen oder gar töten soll, braucht man deshalb einen Pfeil der gerade ist, damit er zielgerecht trifft, richtig?" Ich stand auf, erschuf in Windes Eile einen Bogen und Pfeil aus Eis und schoss in einen nahegelegenen Baum, in dem sich der Pfeil genau in der Mitte bis zur Hälfte eingebohrt hatte. "In etwa so?", fragte ich nur und setzte mich wieder an seine Seite als wäre nichts gewesen. Der Eispfeil schmolz augenblicklich weg und zurückblieb nur der halb durchbohrte Baum. Das Wasser wirkte wie das Blut eines Opfers, welches an diesem herunterlief. Es war irgendwie interessant anzusehen, aber ich sah wieder zurück zu Dustin und lächelte.

"Ja, du hast es verstanden." meinte Dustin und griff wieder nach seinem Taschenmesser, um einen weiteren Ast in einen Pfeil zu verwandeln. "Im Schießen scheinst du gar nicht so schlecht zu sein." bemerkte Dustin. "Hast du sowas schon mal gemacht?" Vorhin hatte es noch geklungen, als wäre das alles NEULAND für Noah.

"Vielen Dank", erwiderte ich. "Um ehrlich zu sein, nein. Ich habe das noch nie gemacht, nur mal gesehen." Ich lachte kurz und sah Dustin wieder beim Schnitzen zu.

"Dann bist du ein Naturtalent." meinte Dustin. "Wenn du noch lernst, Pfeil und Bogen selbst zu machen und instand zu halten, dann könnte aus dir ein passabler Jäger werden. Und das sag ich nun sicher nicht zu jedem. Natürlich musst du noch lernen, wie man richtig steht und den Bogen hält und alles, auf  das es sonst noch so ankommt."

"Von Schnitzen an sich habe ich aber überhaupt keine Ahnung", gab ich beschämt zu und fuhr mir durch die Haare. "Und von dem Rest auch nicht." Und aus mir könnte ich passabler Jäger werden? Klang in meinen Ohren eher utopisch, aber Dustin war hier der Experte und nicht ich. Also wird er wohl Recht haben.

"Jeder kann das Lernen. Und du scheinst dazu noch Talent zu haben." meinte Dustin und legte sein Schnitzwerkzeug beseite. "Wenn du willst, kann ich es dir demnächst mal beibringen." schlug Dustin vor. Ehw, noch mehr menschlich Nähe. Ja, er musste nachher unbedingt irgendwas grausam töten.
"Jagen ist.. es ist die Erfüllung. Ich fühle mich nie so lebendig wie auf der Jagd." schwärmte er. Er liebte es. Es erfüllte ihn und es machte ihn an. Er war für die Jagd geschaffen.

Ähm, wenn du das sagst, dann muss das wohl stimmen, danke." Als er mir dann auch noch vorschlug, mir das Ganze beizubringen, war ich äußerst interessiert. "Sehr, sehr gerne", entgegnete ich ihm mit einem Lächeln.
Daraufhin lauschte ich seinen Schwärmereien. Er liebte das Jagen wohl sehr. Ich freute mich jetzt schon auf den Privatunterricht.